(6) Gera und der NSU: von den Baseballschlägerjahren über Blood & Honour zur AfD

Neonazi-Trauermarsch 1997 in Neuhaus am Rennweg: (unten v.l.n.r.) Tino Brandt, Ralf Ollert, André Kapke, Beate Zschäpe; (Mitte v.l.n.r.) Uwe Böhnhardt, Gordon Richter (Kameradschaft Gera), Nils Großenbach (Kameradschaft Gera), Daniel Stärz (Legion Ost), Holger Gerlach. (Bild: TLZ)

Wie in allen ostdeutschen Städten bildete sich auch in Gera nach der Wende eine größere Szene von Neonazi-Skinheads heraus. Sie dominierten öffentliche Plätze, begingen rassistische Übergriffe und verbreiteten ein Klima der Angst. Durch die Gründung von Rechtsrockbands, Kameradschaft und Parteiverbänden festigten sich ihre Strukturen. Die Kameradschaft Gera war eine tragende Säule des Thüringer Heimatschutzes und hatte somit auch gute Beziehungen zum späteren NSU-Kerntrio, seinen Jenaer UnterstützerInnen und zum NSU-Terrornetzwerk. Auch in Gera wurden nach dem Untertauchen des Trios 1998 Spendengelder gesammelt. Die Baseballschlägerjahre der frühen Neunziger gipfelten 2004 in der Ermordung von Oleg Valger durch vier teils noch jugendliche Geraer Neonazis. In der Rückschau hebt sich Gera jedoch von anderen Städten in der Region, die eine ähnlich bittere Entwicklung seit der Wende durchliefen, durch mehrere Faktoren ab: Überdurchschnittlich viele Neonazis, die teils als Jugendliche nach der Wende die Szene aufbauten, sind bis heute in der Stadt aktiv. Es gab zudem eine hohe Dichte an Rechtsrockbands, die teilweise bis heute Bestand haben. Und in Gera saß die Führung der Thüringer Sektion von Blood & Honour, die den bewaffneten Kampf über Rechtsrockkonzerte propagierte und finanzierte. Zwanzig Jahre später veranstalten dieselben Personen noch Großkonzerte. Der NSU-Helfer André Eminger ist über die Rockergruppe Stahlpakt und über die Gefangenenhilfe eng mit Geraer Neonazis verbunden und taucht dort selber immer wieder auf. Mit der Gründung der AfD traten mehrere Akteure aus den Neunzigern der AfD bei, darunter ein noch heute aktiver Rechtsrocker. Und auch die Proteste der Pandemieleugner*innen werden in Gera von Neonazis aus dem früheren Umfeld von Blood & Honour Hand in Hand mit der AfD organisiert.

Oithanasie

Das Cover der Oithanasie-Platte „Volkstreu“ von 1993 (Bild: Discogs)

Als eine der ersten Bands prägte die 1991 gegründete Rechtsrockband Oithanasie diese Zeit der brutalen Gewalt mit Liedtexten und Taten. Der Bandname setzt sich zusammen aus Oi- für Oi-Punk und Euthanasie für die nationalsozialistische Massenhinrichtung von Menschen mit chronischen Erkrankungen, körperlichen Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten. Bei einem Oithanasie-Konzert Anfang der Neunziger in Mehla (Landkreis Greiz) trafen auch die JenaerInnen um Stefan Apel, Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zum ersten Mal auf Thomas Starke aus Chemnitz, der später einer ihrer wichtigsten UnterstützerInnen nach dem Untertauchen werden sollte. Das Cover des 1992 veröffentlichten Oithanasie-Albums „Volkstreu“ zierte ein Skinhead mit Baseballschläger in der Hand. Die Mitglieder um Bandgründer Jens Sattler traten auch im Alltag entsprechend auf: 1993 wurde bei einem Oithanasie-Konzert anlässlich des Geburtstags von Bassist Daniel Köhler in Teichwolframsdorf eine Hakenkreuz-Fahne auf der Bühne gehisst.

Das Cover der Oithanasie-Kassette „Korrupte Gesellschaft“ von 1993 (Bild: Discogs)

Die beiden Bandmitglieder Mario Quaschning und Andreas Linke waren außerdem an Himmelfahrt 1993 an einer Hetzjagd auf ehemalige Vertragsarbeiter aus Mosambik beteiligt, bei der eine Gruppe Skinheads unter „N**** raus!“-Rufen Latten aus einem Holzzaun riss und auf die Flüchtenden einschlug. Dabei ragten aus einigen Latten noch Nägel heraus und es wurde mit Springerstiefeln auf am Boden Liegende eingetreten. Am 24. Januar 1994 gab es nach einem verhinderten Oithanasie-Konzert in Threna durch angereiste Neonazis Hetzjagden und lebensgefährliche Übergriffe mit Schlagringen und Messern auf mehrere Jugendliche. Im Sommer 1994 wurde ein Konzert von Oithanasie in Bayern verboten. Daraufhin fuhren mehrere Dutzend Neonazis, darunter die GeraerInnen, mit ihrem gecharterten Reisebus nach Thüringen, wo sie einen Blumenhändler aus rassistischen Motiven überfielen und danach in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald randalierten und Mitarbeiter*innen angriffen. Auf den darauffolgenden öffentlichen Aufschrei reagierte der Geraer Bürgermeister Ralf Rauch, indem er gemeinsam mit Oithanasie eine Pressekonferenz abhielt. Hier behaupteten die Nazis wahrheitswidrig, dass keiner von ihnen in besagtem Bus gesessen hätte. Der Bassist Daniel Köhler arbeitete zu diesem Zeitpunkt in einem Streetworkprojekt für die Stadt Gera. Wenige Jahre später wurde Oithanasie dann vom „Ultima Tonträgerversand“ von Sven Liebich aus Halle vertrieben, der zum Netzwerk von Blood & Honour gehörte und Oithanasie-Alben in Ausgabe 4 des Magazins von Blood & Honour mit einer Anzeige bewarb. Auch Daniel Köhler persönlich zählte zum Umfeld des Geraer Anführers von Blood & Honour Thüringen, Marcel Degner.

Legion Ost

links: Legion Ost: Raik Schumann (oben l.), Jens Sattler (oben r.), Daniel Stärz (unten r.) und Jens Häfer (unten l.); rechts: Cover von “Ohne Worte” (Bilder: Discogs)

Im Jahr 1993 gründete sich in Gera die Rechtsrockband Legion Ost. 1996 übernahm der Oithanasie-Gitarrist Jens Sattler den Posten des Bassisten von René Stemmler bei Legion Ost und spielte hier fortan zusammen mit Daniel Stärz, Raik Schumann und Jens Häfer. Mit der Gründung von Blood & Honour (kurz B&H) Gera 1996 bildete sich auch für Legion Ost ein größeres Netzwerk heraus. Ihr erstes Album „Ohne Worte“ erschien beim dänischen Blood & Honour-Label NS Records und war mit einem Hakenkreuz bedruckt. Ins selbe Jahr fällt ein Auftritt in Zwickau, bei dem außerdem Westsachsengesocks und Noie Werte auf der Bühne standen. Westsachsengesocks war die Band von Ralf Marschner aus Zwickau, einem V-Mann des Verfassungsschutzes, der später das NSU-Kerntrio im Untergrund mit Jobs unterstützt hat. Und bei Noie Werte spielte Andreas Graupner von Blood & Honour Sachsen mit, der nach dem Untertauchen des Trios für Unterschlupf und Geld zur Waffenbeschaffung sorgte. Im Februar 1998 trat Legion Ost bei einem Konzert von Blood & Honour Süd-Brandenburg in Finsterwalde auf, das wegen unzähligen „Sieg Heil“-Rufen und Hitlergrüßen von der Polizei aufgelöst wurde. Wenig später musste Sänger Daniel Stärz eine Haftstrafe wegen Landfriedensbruch und schwerer Körperverletzung antreten. Hinzu kamen Verurteilungen wegen NS-Symbolik und volksverhetzender Texte auf dem Album „Ohne Worte“. Auch Schlagzeuger Raik Schumann kam Ende der Neunziger für eine Zeit lang in Haft. Aus der Haft heraus gab Stärz der Geraer B&H-Aktivistin Anja Burian, ein Interview für das Magazin Nr. 5 des militanten Netzwerks. Hier erklärte er den NS-Kriegsverbrecher Rudolf Heß zu einem „der großartigsten Männer der deutschen Geschichte“ und bekräftigte, mit Legion Ost nach der Haft weitermachen zu wollen. Letzteres trat jedoch nicht mehr ein. Gute 16 Jahre später erklärte Daniel Stärz über die neu angelegte Facebook-Seite von Legion Ost, die Band wieder aufleben lassen zu wollen. Es ist davon auszugehen, dass einzig Raik Schumann von der alten Besetzung noch dabei wäre. Der immer noch in Gera lebende Jens Sattler reihte sich jedoch mit nostalgischen Kommentaren in die Online-Debatte ein.

Die letzte Besetzung von Legion Ost mit heutigem Aussehen: (oben v.l.) Raik Schumann und Jens Sattler, (unten v.l.) Jens Häfer und Daniel Stärz

Eugenik und Totenburg

1996 gründete sich in Gera die Neonaziband Oigenik um den damals 18-jährigen Sänger Jens Fröhlich. Der Bandname bezieht sich auf den Musikstil des Oi-Punk und die nationalsozialistische Vernichtungsideologie der Eugenik, unter deren Vorzeichen diejenigen Teile der deutschen Bevölkerung getötet werden sollten, deren Erbgut als nicht fortpflanzungswürdig angesehen wurde. Bald darauf änderte die Band ihren Stil vom Skinhead-Punk-ähnlichen Oi in eine Richtung des Black Metal und trat fortan schlichtweg als Eugenik auf. Die Eugenik-Mitglieder bekannten sich alle zur Blood & Honour-Bewegung und vor allem Jens Fröhlich war am Aufbau von deren Jugendorganisation White Youth beteiligt. Eugenik zählten schon bald zu den Netzwerken des Thüringer Heimatschutzes und der Unterstützer*innen-Szene des 1998 abgetauchten NSU-Kerntrios. Ihr Debüt als Live-Band hatten sie beim Stammtisch des Heimatschutzes in Heilsberg. Und als sie wenige Jahre später ein neues Gästebuch ihrer Webseite freischalteten, verewigte sich dort u.a. der Hallenser V-Mann Thomas Richter alias „Corelli“, der Jahre vor der Selbstenttarnung des NSU dem Verfassungsschutz die CD „NSU/NSDAP“ übergeben hatte.

Eugenik über die eigene Bandhistorie (Bild: Internet-Archiv)

Jens Fröhlich stieß nach der Jahrtausendwende zur 1997 von seinem Geraer Kameraden Denis Schoner gegründeten NS-Black-Metal-Band Totenburg dazu (Anm.: In einer früheren Version stand fälschlicherweise, dass Fröhlich Totenburg mitgegründet hätte). Fröhlich trat als Totenburg-Sänger unter dem Pseudonym „Asemit“ auf und das Totenburg-Album „Weltmacht oder Niedergang“ wurde mit einer brennenden Synagoge bebildert. Fröhlich und Schoner gründeten noch in den Neunziger Jahren Plattenlabels, die über die Jahre mehrfach den Namen wechselten. Heute vertreibt Schoner über Hammerbund Records und Fröhlich über Ewiges Eis Records und den Methorn Versand von Gera aus neonazistischen Black Metal und andere Devotionalien. Als Totenburg veröffentlichten Fröhlich und Schoner unter Mitwirkung von Gastmusikern erst am 24.12.2021 eine neue Platte mit vier Songs unter dem Titel „Untot“.

Ronny Linke (in grün; Blood & Honour Weimar), Jens Fröhlich (Mitte; White Youth Shirt) und Denis Kühne (unten Mitte; Blood & Honour Weimar) am 04.09.1999 beim Aufmarsch von THS und NPD in Gera. (Foto: Jenaer Antifaschist*innen)

Blood & Honour

Marcel Degner (1.v.l.) bei einem bundesweiten Treffen von Blood & Honour in Leipzig 1997. (Foto: Antifainfoblatt)

In den Jahren 1996/1997 entstand in Deutschland ein Ableger des britischen Blood & Honour-Netzwerks. Blood & Honour war ein Netzwerk militanter Neonazis, die über Rechtsrockkonzerte und CD-Verkäufe Gelder für rassistische Kampagnen und Bewaffnung ihrer Mitglieder sammelten. Propagiertes Ziel war eine mit Gewalt durchgesetzte Verdrängung aller nicht-Weißen aus der Gesellschaft. Begleitet wurde diese Bewegung von unzähligen gewaltsamen Übergriffen und Terroranschlägen durch Brief- und Nagelbomben. Die Gründung in Deutschland verlief in einer föderalen Struktur, bei der sich eine Bundes-Division mit in Berlin ansässigem Führer gründete, die sich aus zahlreichen Landes-Sektionen mit jeweils eigenen Strukturen zusammensetzte. Blood & Honour Thüringen wurde von Geraern gegründet, deren Sektionschef Marcel „Riese“ Degner auch den Posten des Kassenwarts der Bundes-Division übernahm. In Gera wurde außerdem mit White Youth auch eine Jugendorganisation von Blood & Honour gegründet. Einer der Gründer war Mike Bär, der in den frühen Neunzigern für seine Ausbildung regelmäßig in Jena war. Hier freundete er sich mit der Kameradschaft um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt an. Bis zum Verbot im September 2000 kamen die meisten Mitglieder der Thüringer Blood & Honour-Sektion aus Gera, wobei einige wenige AktivistInnen auch aus Weimar stammten. Es gab außerdem ein Umfeld von UnterstützerInnen, die aus Pölzig, Kahla, Stadtroda oder Apolda kamen. Der Sektionschef Degner hatte seit 1994 Rechtsrockkonzerte organisiert und dadurch weitreichende Kontakte aufgebaut. Degner wurde wenig später V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes und als solcher 2001 öffentlich enttarnt. Zuvor hatte er mit seiner Sektion nach dem Untertauchen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe das Trio mit Geldern aus Konzerteinnahmen unterstützt. Degner war außerdem eng mit Blood & Honour Sachsen vernetzt, deren Mitglieder das NSU-Kerntrio nach dem Untertauchen in Chemnitz versteckten und aus Geldern ihrer Sektion deren Waffenkäufe zu finanzieren beabsichtigten. Als im September 2000 Blood & Honour und White Youth vom Bundesinnenminister verboten wurden, klagten Marcel Degner für die gesamte deutsche Division und Mike Bär aus Gera für White Youth Deutschland gegen das Verbot.

Jörg Brehski (1.v.l., Kahla), André Merker (2.v.l., Kahla), André Groth (oben mittig, Apolda) und Silvio Jordan (2.v.r.; aus Gera) hinter dem Banner von Blood & Honour Thüringen am 12.02.2000 bei einem Aufmarsch von NPD und Thüringer Heimatschutz in Gera. (Foto: Antifa Recherche Gera)

Kameradschaft Gera

Die Kameradschaft Gera in Dresden am 1. Mai 2001 mit Gordon Richter (2. Reihe mittig m. Bart u. Brille) und Jörg Krautheim (schw. Shirt u. Sonnenbrille); rechter Bildrand: Ralf Wohlleben. (Foto: Antifa Recherche Gera)

Im Jahr 1994 gründete sich die Kameradschaft Gera. Die führenden Köpfe waren Roberto Graf, Jörg Krautheim, Gordon Richter und Jan Stöckel. Zusammen fuhren sie regelmäßig zu Kameradschaftstreffen nach Saalfeld-Rudolstadt, wo sie sich mit den Kameradschaften Saalfeld und Jena zum Thüringer Heimatschutz (THS) zusammenschlossen. Jörg Krautheim unterzeichnete Aufrufe des THS und trat im Namen der Sektion Gera auch vor TV-Kameras als Sprecher der militanten Neonazis auf. Krautheims Aufrufe, die er auch im Netz verbreitete, richteten sich häufig namentlich gegen einzelne Gewerkschafter oder antifaschistische Aktivist*innen und sollten den Anspruch des THS als „Anti-Antifa Ostthüringen“ unterstreichen. Einige der Betroffenen wurden in der Folge attackiert. Auch die Kameradschaftsmitglieder persönlich ließen ihrer Hetze Taten folgen. Mit Simon Richter war ein späterer Kameradschafter bereits 1993 an einer rassistischen Hetzjagd und schweren Übergriffen auf Vertragsarbeiter in Gera beteiligt. Jörg Krautheim und Kameraden waren 1997 im Heilsberger Gasthof, als die Polizei dort ein massives Waffenlager aushob. Die Nazis hatten sich für Angriffe auf eine antifaschistische Demo vorbereitet. 1998 war Krautheim an einem rassistischen Übergriff in Gera beteiligt. Und im Jahr 2000 bewarfen Krautheim und andere Nazis eine Geraer Moschee mit Steinen. Bei Krautheims Festnahme fanden Beamt*innen außerdem Gaspistolen. Zur Kameradschaft Gera zählten in den späten Neunziger Jahren auch die drei Wagner-Brüder. Stefan Wagner erlangte einige Aufmerksamkeit, als er im Jahr 2000 im Eisenacher Bahnhof an einem brutalen rassistischen Übergriff beteiligt war, der auch tödlich hätte enden können.

Kameradschafts-Mitglied Stefan Wagner als Neonazi-Schläger von Eisenach in der Bild-Zeitung vom 13.09.2000

Wandel und Kontinuitäten

Die Geraer Naziszene durchlief um die Jahrtausendwende einige Veränderungen. Oithanasie hatte sich aufgelöst und ohne Jens Sattler hatten die anderen Bandmitglieder die vorgeblich unpolitische Band Neckbreaker gegründet. Legion Ost war durch mehrere Haftstrafen für Bandmitglieder ausgedünnt, benannte sich erst noch in Law and Order um, um sich wenige Jahre später aber auch aufzulösen. Die NS-Black-Metal-Bands Eugenik und Totenburg existierten hingegen über die 2000er Jahre fort und die Labels von Denis Schoner und Jens Fröhlich entwickelten sich weiter. Nach dem Untertauchen von Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt 1998 und dem immer wieder befürchteten Verbot des Thüringer Heimatschutzes bauten die Kameradschaftsführer Gordon Richter und Jörg Krautheim NPD-Strukturen in Gera auf. Blood & Honour wurde 2000 verboten und die 2001 erfolgte Enttarnung des örtlichen Anführers Marcel Degner als Spitzel des Verfassungsschutzes fügte der örtlichen Szene weiteren Schaden zu.

Von Kameradschaft zu NPD Gera: Jörg Krautheim (linker Bildrand), Peter Pichl (Bildmitte 3. Reihe m. weißem Kragen) und Christian Bärthel (Lederjacke) beim neonazistischen Volkstrauertagsgedenken 2003 in Gera. (Foto: Indymedia)

In einhelliger Zusammenarbeit dieser verschiedenen Spektren begann in Gera ab 2003 das noch relativ neue Phänomen der Rechtsrockfestivals unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit: Die NPD um Gordon Richter meldete das “Rock gegen Krieg” als Kundgebung an. Bald darauf wurde es in “Rock für Deutschland” umbenannt und zog Jahr für Jahr immer mehr TeilnehmerInnen an. 2010 sollen es bis zu 4000 Neonazis gewesen sein, die im Hofwiesenpark bei Auftritten der größten Rechtsrockbands feierten. Bei den Festivals traten immer wieder Bands aus dem Blood & Honour-Spektrum auf. Auch Eugenik spielte mehrfach selber beim Rock für Deutschland. Weitere Mitglieder der früheren Kameradschaft und von Blood & Honour waren als Ordner in die Veranstaltungen eingebunden und halfen beim Auf- und Abbau. Im Jahr nach der NSU-Selbstenttarnung setzten die OrganisatorInnen des Rock für Deutschland ein eindeutiges Zeichen der Solidarität mit ihren früheren KameradInnen aus dem Thüringer Heimatschutz: Als Bühnenhintergrund hissten sie das alte Banner des THS. Vor dieser Kulisse trat u.a. die Dortmunder Band Oidoxie auf, die zum rechtsterroristischen Netzwerk Combat 18 gehört.

Rock für Deutschland am 07.07.2012 in Gera: Oidoxie aus dem rechtsterroristischen Combat18-Netzwerk spielen vor dem alten Banner des Thüringer Heimatschutzes. (Foto: Antifa Recherche Gera)

Für die NPD kandidierten auch 2014 noch Kader aus den Neunzigern, darunter der ehemalige Landesvize von Blood & Honour, Silvio Jordan, und die Mitgründer der Kameradschaft Gera, Roberto Graf und Gordon Richter. Richter steht dem Stadtverband bis heute vor.

Verbindungen zum NSU-Helfer André Eminger

André Eminger bei einer Feier des Stahlpakt Gera am 26.03.2016. (Foto: Soziale Medien)

Nach der Verhaftung des Zwickauer NSU-Helfers André Eminger, der von vielen Beobachter*innen als Teil der NSU-Kerngruppe gehandelt wird, offenbarten Ermittlungen und Recherchen verschiedene Verbindungen zur Geraer Naziszene. In einem bei Eminger beschlagnahmten Handy tauchten die aktuellen Nummern der Eugenik-Musiker Jens Fröhlich und Robert Wunderlich auf. Wie das Haskala Saalfeld recherchierte, gab es außerdem Solidaritätsaufrufe und Spendensammlungen im Internet, deren Urheber aus der Rockergruppe Stahlpakt Gera kam. Eminger selber war mindestens Teil einer Supporter-Struktur des Stahlpakts. Sein Schwager ist ebenso Mitglied der Gruppe wie Jens Fröhlich. Und die Kontaktnummer des Hardline-Onlineshops aus Schmölln, der für den Solidaritätsaufruf für André Eminger verantwortlich zeichnete, war auf Emingers Mutter registriert. Der Geschäftsführer des Shops, André Leithold aus Thonhausen, ist gleichzeitig Präsident des Stahlpakts Gera. Leithold produzierte mit seiner Firma “Die Szenestickerei” auch Dienstkleidung für KARE Immobilien aus Gera, der Familienbetrieb von Jens Fröhlich. Beim NSU-Prozess in München trug André Eminger im März 2015 seine Verbundenheit mit Leitholds Hardline-Shop in Form eines Pullovers zur Schau.

André Eminger im Pullover des Hardline.Webshops vor dem OLG München am 03.03.2015. (Foto: Imago Images)

André Eminger war während des laufenden NSU-Prozesses mit den Geraer AnführerInnen von “Der III. Weg” in der neonazistischen Gefangenenhilfe aktiv. Zum “Rock für Deutschland” (RfD) am 01.07.2017 betreute Eminger in Gera den Stand der Organsiation zusammen mit Daniel Steinmüller aus Ronneburg. Steinmüller war im Jahr 2015 innerhalb des III. Weg aktiv und gehört seit Jahren zum mittlerweile verbotenen rechtsterroristischen Netzwerk Combat 18. Nur zwei Wochen nach dem RfD traf sich Eminger beim “Rock gegen Überfremdung” in Themar am 15.07.2017 mit seinen Geraer KameradInnen Nico Metze und Anika Wetzel im Auftrag der Gefangenenhilfe wieder. Metze und Wetzel aus Gera bauten ab 2015 den Thüringer Ableger des III. Weg auf und unterstützten zeitgleich über die Gefangenenhilfe ihren inhaftierten Jenaer Kameraden, den NSU-Helfer Ralf Wohlleben.

André Eminger (1.v.l.) und Daniel Steinmüller (rote Cap) hinterm Stand der Gefangenenhilfe beim RfD Gera am 01.07.2017. (Foto: Lukas Beyer)

Reunion bei Thügida, AfD und Protesten von Pandemieleugner*innen

Christian Klar (oben links), Nils Großenbach (oben 2.v.l.), Jörg Krautheim (oben 1.v.r.) und Christian Bärthel (unten 1.v.r.) bei Thügida in Gera am 19.09.2015. (Foto: Antifa Recherche Gera)

Viele der Kader aus den frühen Neunzigern sind nach wie vor in Gera aktiv. Mit Thügida enstand ab 2015 eine neue Straßenmobilisierung, deren Gründer David Köckert bereits Ende der Neunziger zum Umfeld von Blood & Honour Gera gehörte und mit dem Thüringer Heimatschutz mitmarschierte. Zu einer der ersten Thügida-Kundgebungen in Gera am 19.09.2015 kamen mit Nils Großenbach und Jörg Krautheim zwei ehemalige Mitglieder der Kameradschaft Gera, die (siehe Titelfoto) in den Neunzigern mit dem späteren NSU zusammen aktiv waren. Christian Klar, der ebenso wie Großenbach um 2000 zum Umfeld des Anführers von Blood & Honour, Marcel Degner, zählte, tauchte auch bei Thügida wieder auf. Im Jahr 2018 trafen sich weitere ehemalige Kameradschafter bei Thügida in Gera wieder: Der Schläger vom Eisenacher Bahnhof im Jahr 2000, Stefan Wagner, war genauso mit dabei wie die früheren Kameradschafter Roberto Graf und Michael Hesse, oder NSBM-Musiker Denis Schoner.
Mehrere heutige Funktionäre der 2013 gegründeten AfD nahmen an denselben Thügida-Naziaufmärschen 2015 in Gera teil. Darunter waren der heutige Geraer Stadtratsvorsitzende Reinhard Etzrodt und seine Frau Bettina Etzrodt, deren Sohn und AfD-Kreistagsabgeordneter im Saale-Holzland-Kreis, Martin Etzrodt, und der Geraer Stadtratsabgeordnete Eike Voigtsberger. In einem ersten symbolischen Schulterschluss marschierte im Februar 2016 mit Jörg Krautheim einer der ehemaligen Anführer des Thüringer Heimatschutzes in zweiter Reihe bei einem AfD-Aufmarsch durch Gera. Krautheim zählte im Vorjahr noch als Beisitzer zum neugegründeten Landesverband von Die Rechte und nutzte seinerzeit seine private Homepage als Sprachrohr für die antisemitische Hetze und Shoa-Leugnung von Horst Mahler.

AfD in Gera am 19.02.2016 (v.l.n.r.): Denny Jankowski, Tim Beutler, Jörg Henke, Wiebke Muhsal, Jörg Krautheim (schw. Jacke u. Mütze), Thomas Rudy, Stephan Brandner. (Foto übernommen von Gera Nazifrei)

Peter Pichl, der Ende der Neunziger als Jugendlicher zur Kameradschaft Gera hinzustieß und danach lange Jahre Kader der Geraer NPD und Mitorganisator des „Rock für Deutschland“ war, näherte sich im selben Zeitraum der Geraer AfD an. Christian Bärthel, der 1999 schon mit NPD und THS durch Gera marschierte, gehörte seit Parteigründung zu den aktivsten örtlichen UnterstützerInnen der AfD, ohne selbst Mitglied zu werden. Die Landtagsabgeordneten Dieter Laudenbach und Wolfgang Lauerwald hatten zusammen mit dem AfD-Stadtratsmitglied Eike Voigtsberger schon länger Netzwerke mit der Geraer Naziszene aufgebaut. Peter Pichl wurde dann 2020 von Dieter Laudenbach als Mitarbeiter geworben. Seit Beginn der Corona-Pandemie treffen sich AfD-Abgeordnete und frühere Kameradschafter fast wöchentlich zu Protesten gegen die Schutzmaßnahmen wieder. Die Ärzte Eike Voigtsberger und Wolfgang Lauerwald nehmen zusammen mit dem früheren THS-Aktivisten Michael Hesse und weiteren Neonazis an angemeldeten, wie verbotenen Aufmärschen gegen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz teil und sind in Voigtsbergers Fall sogar bei nächtlichen Spontandemos mit reichlich Pyrotechnik und Maskierung beteiligt. Bei einer solchen Aktion lief Voigtsberger am 21.05.2021 auch mit dem Drummer von Legion Ost, Raik Schumann und vielen weiteren aktiven Neonazis im Rauch von Fackeln, Rauchtöpfen und Bengalos durch Gera.

Raik Schumann (Vordergrund) und Eike Voigtsberger (hinten 1.v.l.) bei einer nächtlichen Spontandemo in Gera am 21.05.2021. (Bild: Youtube)

Mit Christian Klar übernahm Ende 2021 ein früherer Weggefährte von Blood & Honour-Chef Marcel Degner die Koordination der Geraer verschwörungsideologischen Großproteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen. Seine Aufmärsche wurden vom Thüringer AfD-Chef Björn Höcke genauso unterstützt wie vom AfD-Bundestagsabgeordneten Stephan Brandner. Am 24.01. und 07.02.2022 lief auch Jörg Krautheim beim “Spaziergang” der Pandemieleugner*innen durch Gera, der inzwischen auf eine gut dreißigjährige Zugehörigkeit zur extremen Rechten der Stadt zurückblicken kann. Bei letzterem Protest lief Krautheim gemeinsam mit der stellvertretenden Vorsitzenden der AfD Gera, Evelyn Gropp, und dem ebenso zum Stadtvorstand gehörenden Reiko Pflug.

(v.l.) Evelyn Gropp, unbekannt, Jörg Krautheim und Reiko Pflug beim Aufmarsch der Pandemieleugner*innen in Gera am 07.02.2022. (Bild: Youtube)

Sänger von Legion Ost ist Mitglied der AfD

Dass die AfD den altgedienten Kadern aus den Baseballschlägerjahren eine politische Heimat bietet, beweist auch die Mitgliedschaft von Sven Köhler und Daniel Stärz im Kreisverband Jena-Gera-Saale-Holzland-Kreis. Sven Köhler war 1993 mit Oithanasie-Mitgliedern an der rassistischen Hetzjagd auf Vertragsarbeiter in Gera beteiligt und saß 1994 mit im Geraer Reisebus, der zur Randale in die KZ-Gedenkstätte Buchenwald fuhr. Köhler ist der Bruder des früheren Oithanasie-Bassisten Daniel Köhler. Daniel Stärz, Sänger der Blood & Honour-Band Legion Ost, trat bereits im Gründungsjahr 2013 in die AfD ein. Im Jahr 2016 verkündete Stärz dann, Legion Ost wieder aufleben lassen zu wollen. Auf der dazugehörigen Facebook-Seite veröffentlichte er die alten Cover des Albums „Ohne Worte“, für dessen volksverhetzenden Inhalt Stärz Ende der Neunziger verurteilt wurde. Seine Parteimitgliedschaft lief unvermindert weiter.
An diesen Beispielen zeigt sich erneut: Die AfD ist trotz ihrer FunktionärInnen aus dem Bürger*innentum keine Partei für gemäßigte Rechte, sondern politische Heimat gefestigter Neonazis. Diese Neonazis mit einer Sozialisation in den Baseballschlägerjahren hatten 1994 noch den Thüringer Heimatschutz gründen müssen, um in der Öffentlichkeit mit ihren rassistischen und neofaschistischen Positionen wahrgenommen zu werden. Dieselben AkteurInnen fühlen sich heute bei unvermindert radikalen Positionen von der AfD gut vertreten.

Mit Unterstützung der Antifa Recherche Gera

Leseempfehlung: Im Text „Unter UNS: Das Netzwerk des NSU in Gera“ wurde zum Jahreswechsel bereits auf die Biographien einiger Protagonisten des früheren Geraer NSU-Umfelds eingegangen und dargelegt, wo diese noch heute im Stadtgeschehen mitwirken.